Denn es braucht weder Aliens, Chronologiekritiker noch Verschwörungstheorien. Themen wie Basken, Seevölker, Dorische Wanderung, Atlantis oder indogermanische Invasionen sind längst zu deuten. Man muss nur die neuesten Veröffentlichungen von Archäologen, Genetikern, Geologen, Linguisten und Geografen zusammenbringen. Und die lassen sich durch die sog. Katastrophentheorie zusammenfassen, welche Auf- und Untergang aller urzeitlichen Kulturen nach den immer gleichen Abläufen erklärt: tektonische Verwerfungen (auch wegen kosmischer Impacte), Tsunamis und kurzfristige Besiedlung der Höhen, atmosphärische Winter und langfristige Agrar- und Subsistenzkrisen, kriegerische Völkerwanderungen und letztlich technologischer Fortschritt. Dazu stelle ich im Einstieg "Worum es hier geht“ 7 Hypothesen auf, die gerne diskutiert werden können. Die daraus resultierende Chronologie finden Sie in den Artikeln von 1. bis 7. durchnummeriert. Eine Übersicht der damaligen Kulturen ganz unten rechts…

Montag, 1. Oktober 2018

Die Himmelsscheibe von Nebra orientalisch beeinflusst?


High-Tech der Aunjetitzer: Die Himmelscheibe von Nebra
als Taschenobservatorium
Das jedenfalls behauptet die GEO Ausgabe 10/2018 in ihrem Artikel „Das Reich der Himmelsscheibe“. Dort wird das neue Buch des Archäologen Harald Meller und des Journalisten Kai Michel über die prähistorische Kultur der sog. Aunjetitzer beworben, die von etwa 2200 bis 1600 v. Chr. Mitteleuropa bewohnt haben. Die bronzezeitliche Truppe hat vor 20 Jahren noch niemand gekannt, scheint aber den Anstoß für eine Neubewertung frühzeitlicher Bewegungen auf unserem Kontinent zu liefern. Nicht aber für diesen Blog!
Trotzdem präsentiert sich dem Leser eine brillante Analyse, die aber leider die Grenzen deutscher Archäologie nicht zu überschreiten vermag: Wieder wird der Einfluss Westeuropas auf das Zentrum des Kontinents fast vollkommen ignoriert. Trotzdem erscheint das Buch als Meilenstein bei der Bewertung dieser komplexen Materie. Besonders die detektivischen Herleitungen haben es in sich:
Schicke Bronzeschmiede
  • Neu: Die Aunjetitzer Kultur erscheint als Hochzivilisation aus der Vermischung von westlichen Glockenbecherleuten und östlichen Schnurkeramikern.
  • Mitteleuropa wird als innovativer Schmelztiegel der einströmenden Völkermassen erkannt, deren logische Entwicklung nach menschlich sinnfälligen Mustern beschrieben wird.
  • Die Autoren vermuten sogar eine zentral gesteuerte Reichsbildung.
  • Die Schnurkeramische Kultur soll aus dem Osten die Indogermanische Sprache mitgebracht haben.
  • Die Glockenbecherleute waren aber wahrscheinlich als „Herren des Metalls“ das bestimmende Element dieser Vermischung.
  • Große Kampftruppen bildeten das Faustpfand königlicher Macht (Schlussfolgerungen aus einem großen Beildepot, dass nicht, wie üblich, als religiöse Niederlegung verklärt wird)
  • Kultureller Fortschritt ist nur in friedlichen Zeiten möglich - der für heute wohl wichtigste Schluss.
  • Revolutionär: Der Untergang der Aunjetitzer wird in den Zusammenhang mit der Vulkaneruption des Thera auf Santorin um 1600 v. Chr. gebracht, ausgelöst durch die begleitende Klimaveränderung und eine Agrarkrise.
Trotz dieses geballten Nachweises historischer Kompetenz scheinen die Fettnäpfchen deutscher Archäologie artig umschifft worden zu sein, wodurch prompt wenig stichhaltige Schlussfolgerungen entstanden:
Vermischung der Ost- und Westkulturen um 2000 v. Chr.
  • Das astronomische Wissen der Himmelscheibe von Nebra soll vom Sonnenkult im Nahen Osten inspiriert worden sein, dass Reisende an die Unstrut mitbrachten.
  • Die Herkunft der Glockenbecherkultur wird trotz ihrer Bedeutung für die neue Zivilisation nicht einmal angerissen.
  • Es fehlt der Auslöser für den Aufschwung der Aunjetitzer.
  • Auch die Rolle ihrer Süddeutschen Kupferlieferanten bleibt im Dunkeln.
  • Durch die fehlende Schrift sei den Aunjetitzern der entscheidende Schritt zu einer Hochkultur entgangen.
  • Eine wesentliche Frage bleibt auch: Wie konnten zwei sonst so aggressive Kulturen, repräsentiert durch die östliche Streitaxt und den westliche Bronzedolch friedlich nebeneinander leben?
Überzeugende Antworten bekommt man aber, wenn die Konsequenzen der Katastrophentheorie dieses Blogs berücksichtigt werden (Siehe Post: Die Geschichte Europas im Rhythmus globaler Naturkatastrophen). Die Entwicklung der Aunjetitzer aus den Glockenbecherleuten heraus wurde hier schon vor 4 Jahren vertreten. Doch man braucht gar keine neuen Thesen. Schon allein die anerkannte Archäologie liefert für o.g. Kritik genügend Beweismaterial:

Astronomisches Wissen vom Nil?
1. Dieser Post will sich nicht über die angeführte fiktive Geschichte vom Aunjetitzer-Prinzen mokieren, der aus Ägypten observatorisches Gedankengut nach Mitteleuropa gebracht haben soll, dass dann weiter ins britische Stonehenge wanderte. Solchen Reisen waren damals durchaus denkbar. Dass er aber auf der Heimreise noch mal eben schnell die Idee für das Taschenobservatorium von Nebra entwickelt haben soll, erscheint doch ein bisschen weit hergeholt. Die Westeuropäer experimentierten schon mit Sonnenwendsymbolen, da begann man in Ägypten gerade mal mit dem Ackerbau (ab 5000 v. Chr.) Die ersten astronomisch ausgerichteten Kreisgrabenanlagen werden der Linearbandkeramik ab 4900 v. Chr. zugerechnet. Auch die im Artikel angeführten Sarsensteine von Stonehenge (ab 2500 v. Chr.) hatten hölzerne Vorgängerbauten ab 3100 v. Chr. Da war an Pyramiden in Nordafrika noch gar nicht zu denken. Wichtigstes Indiz aber: Im kalten Norden erscheint es viel zwingender nach den Zeiten für Aussaat und Ernte zu forschen als im Nahen Osten. Dort war die Landwirtschaft von Anfang an nach den Überschwemmungszeiten der großen Flüsse ausgerichtet.

Die Glockenbecherexpansion aus Südspanien heraus?
2.    Hierzulande wollen uns die Archäologen weis machen - und indirekt auch der Artikel -, die Glockenbecherkultur sei in Ungarn oder gar am Niederrhein entstanden. Dabei gilt in allen anderen Ländern Westeuropas unter Fachleuten als ausgemacht, dass sie von Marokko über Portugal/ Spanien den Weg nach Norden genommen hat, genau wie ihre megalithischen Vorgänger (Siehe Post: „Die Glockenbecherkultur - das erste westliche Großreich?“). Noch nicht einmal der nachgewiesene genetisch-geographische Zusammenhang der sog. Haplogruppen R1b-Glockenbecher -Westeuropa und entgegengesetzt R1a-Schnurkeramiker-Osteuropa, kann die Lehrstuhlinhaber überzeugen (Siehe Post: Kultureller und genetischer Kristallisationspunkt am Atlantik).

3.
Aunjetitzer (4) im Kreis ihrer Nachbarn (Wikipedia)
Die Aunjetitzer Kultur (4) wird in einen schmalen Streifen von Magdeburg bis zum Balaton gepresst. Die Kontaktzone von Schnurkeramikern und Glockenbecherleuten war aber viel größer. Die reicht über Süddeutschland/ Schweiz bis in den Alpenraum. Dort soll nach neuesten Forschungen die Bronzezeit 150 Jahre später eingesetzt haben, obwohl das Kupfer für die Himmelsscheibe ja aus dem Voralpenraum stammt. Außerdem gibt es alleine in Südthüringen ein Dutzend großer Grabhügel, die an die Aunjetitzer-Gräber in Mitteldeutschland erinnern, aber nie untersucht wurden. Dass hier noch vieles im Dunkeln liegt, ist nicht so schlimm, es sind aber keine wissenschaftlichen Bemühungen erkennbar, die Zusammenhänge aufzuklären. So werden die zahlreichen Funde von Großsteinsetzungen der Cairn-Forschungsgesellschaft in Süddeutschland von der etablierten Wissenschaft nicht ernst genommen. Dabei könnte hier der Schlüssel zum Verständnis der bronzezeitlichen Entwicklung in ganz Europa liegen.

Kaltzeiten vor Christus
4.    Naturkatastrophen, wie um 1600 v. Chr., könnten nicht nur zum Untergang der Aunjetitzer geführt haben, sondern auch zu ihrem Aufschwung. Geologen, Klimaforscher und nicht wenige Archäologen haben um 2200 v. Chr. die gleichen kontinentalen Erscheinungen ausgemacht, wie 600 Jahre später. Die scheinen nämlich - wie auch 6200, 3900 und 1200 v. Chr. - immer nach dem gleichen Muster abzulaufen: tektonische Verwerfungen mit gigantischen Vulkanausbrüchen und Tsunamis, Atmosphärenkollaps, Agrar- und Subsistenzkrise, kriegerische Völkerwanderungen - aber auch Rückkehr, Wiederbelebung und innovative Entwicklungen wie die Entdeckung der Metallverarbeitung. Das könnte die Glockenbecherleute als „Herren der Bronze“ in der Überlappungszone mit den Schnurkeramikern zu neuen Höhen geführt haben (Siehe Post zu Katastrophenzeiten!).

Genetische Identifikation der Ost- und West-Kulturen
5.    All das assoziiert im Gegensatz zu Meller und Michel eine differenzierte Theorie: Wie ihre megalithische Vorfahren bis 3900 v. Chr. auch, hatten die Glockenbecherleute bis 2200 v. Chr. ihr Einflussgebiet küstennah von Iberien aus bis Britannien und die Nordseeküste und über die Schweiz bis nach Mitteldeutschland ausgedehnt (Zentralfrankreich scheint damals noch unwirtliches Vulkangebiet gewesen zu sein.). Dabei müssen die kupferbewehrten Krieger auch die „hinter“ dem Rhein lebenden Schnurkermaiker unterjocht haben. Ihre Überlegenheit scheint so groß gewesen sein, dass keine befestigten Höhensiedlungen zu ihrem Schutz notwendig waren. Als die Sturmfluten um 2200 v. Chr. losbrachen, müssen die Menschen aus dem Flachland und den Flussauen, wie während der anderen Katastrophenzeiten auch, über die Mittelgebirgsschwelle nach Südosten geflohen sein. In den nicht vom Kollaps betroffenen Gebieten zwischen Harz, Böhmischen- und Karpatenbecken scheint sich nun durch Not und Verdichtung des Völkergemisches der Aufschwung zur Aunjetitzer Kultur vollzogen zu haben. Mit dem Rückgang der Fluten konnte die neue Kultur 100 Jahre später an Flüsse wie die Elbe zurückkehren, um repräsentative und verteidigungsfähige Ringwallanlagen wie Pömmelte bzw. Schönbeck zu gründen. Dazu passen auch die Vermutungen im GEO-Artikel, über den anfänglichen Opferkult dort. (Leider lässt er typischerweise den Verteidigungscharakter solcher Palisaden- und Gräbenringe unter den Tisch fallen.) Wenn diese Hypothese stimmt, müssten sämtliche Aunjetitzer-Artefakte in dieses zeitliche und geografische Raster passen.

Die anfällige Europäische Platte
6.    Als um 1600 v. Chr. die nächste tektonische und gesellschaftliche Katastrophe über Mitteleuropa hereinbrach, könnten die vordem unterdrückten Schnurkeramiker die Macht an sich gerissen haben. Sprachexperten sehen in dieser Zeit eine weitere Verstärkung und Westausdehnung der indoeuropäischen Komponente. Nach den archäologischen Erkenntnissen entstanden Höhensiedlungen, die soziale Differenzierung nahm ab, erste Brandbestattungen tauchten an den Grenzen der Überflutungsgebiete auf. Alles passt!

Trotzdem sind das hier nur alternative Schlussfolgerungen aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen: Die archäologischen, geologischen und klimatischen Fakten liegen nämlich puzzlemäßig auf dem Tisch, werden von den Experten jedoch nicht überzeugend genug zusammengesetzt. Der Blog hier versucht es mit seinen bescheidenen Mitteln.
Endausdehnung der revolutionären Urnen-Kultur in die 
ehemals überfluteten Gebiete 
Dennoch keimt Hoffnung für den Geschichtsinteressierten auf: die Katastrophenzeiten scheinen ganz langsam salonfähig zu werden. Wie die sich merkwürdig verhaltende Urnenfelderkultur vor ein paar Monaten offiziell in den Zusammenhang mit der Katastrophenzeit von 1200 v. Chr. gebracht wurde, ist es hier die Aunjetitzer Kultur mit dem Kollaps von 1600 v. Chr. Den dunklen Abschnitten europäischer Geschichte wird aber wohl nur der zu Leibe rücken können, wer die Auswirkungen der periodisch zuschlagenden atlantischen Fluten auf die Westküste Iberiens und die damit verbundenen Völkerwanderungen ins Herz unseres Kontinents analysieren kann.